Wir leben in einer modernen Gesellschaft, in der es normal ist, Freundschaften im digitalen Netzwerk zu pflegen. Überaus häufig sehen sich Freunde und Bekannte gar nicht im realen Leben, sondern tauschen sich nur virtuell aus. Kinder verbringen ihre Freizeit am Handy, PC oder an Spielkonsolen und tummeln sich in virtuellen Welten, anstatt mit Freunden an der frischen Luft zu spielen, zu toben und zu raufen. Wie selten ist es geworden Freunde herzlich zu umarmen oder sie vertrauensvoll an die Schulter zu greifen? Wer das nicht selbst erfahren hat oder vorgelebt bekommen hat, wie kann er es an die nächste Generation weitergeben oder es bei sich selbst auch nur als zutiefst menschliches Bedürfnis anerkennen?

Berührung ist für uns essenziell.

Erstaunlich spät hat die Wissenschaft das weite Feld der Berührungen und ihrer Wirkung für sich entdeckt. Immerhin ist die Haut das größte menschliche Organ. Sanfte Berührungen, Massagen, manuelle Therapieformen und Umarmungen werden heute mit einer ganzen Reihe von positiven Effekten in Zusammenhang gebracht. Schon wenn ein Baby zur Welt kommt sehnt es sich nach warmer, sanfter Berührung, denn es wird in eine kalte, helle Welt geworfen, welche es vorher noch nicht kannte. Daher werden Ärzte und Hebammen es sofort in warme Decken hüllen und es in den Arm nehmen, um seine vertraute Umgebung nachzuahmen, den warmen, dunklen Mutterleib und ihm ein Gefühl von Geborgenheit vermitteln. Das Gefühl der Geborgenheit, der körperliche Kontakt zu den Eltern und die daraus resultierende Bindung ist enorm wichtig. In den ersten Lebensjahren erfährt das Kind viele körperliche, sanfte und einfühlsame Berührungen. Und das fördert das Kind in seiner Entwicklung eines gesunden Sozialverhaltens, so die Aussagekraft einiger Studien des Verhaltensforschers Harry Harlow. Für Frühgeborene ist dieser Kontakt sogar lebensnotwendig. Denn setzt die Atmung ihrer noch nicht ausgereiften Lunge aus, gibt ihnen eine liebevolle Berührung den Impuls, wieder Luft zu holen. Auch wenn wir traurig sind, uns in einer Krise befinden oder krank sind, hilft es uns, gestreichelt zu werden. Glückshormone werden ausgeschüttet, das Immunsystem angekurbelt, und uns wird unterbewusst signalisiert: Du bist in Sicherheit. Eine Berührung mit etwa 1 bis 10 cm pro Sekunde wird als angenehmes Streicheln empfunden. Ein „Naturheilverfahren“ also, das durch nichts zu ersetzen ist.

Körperkontakt kann auch das Wachstum von Kindern beeinflussen. Die amerikanische Professorin Tiffany Field wies in den 1980er-Jahren in Studien nach, dass Frühchen, die massiert wurden, besser Gewicht zulegten als die, die nicht massiert wurden. Welche Mechanismen dahinterstecken, ist abschließend noch nicht geklärt. Klar ist aber: Der Tastsinn ist bei der Geburt weiterentwickelt als alle anderen Sinne. „Berührung ist damit unsere erste Sprache.“

Berührungen haben vor allem eine vorbeugende Wirkung.

Verschiedene Studien mit Mäusen und Menschen haben gezeigt, dass Berührungen das Immunsystem stärken. Mäuse, die über eine Woche täglich massiert wurden, hatten danach eine deutlich gestärkte Abwehrreaktion. Menschen, die jeden Tag umarmt werden, sind weniger anfällig für Erkältungen (Carnegie Mellon University in Pittsburgh 2014).

Lange vor der Wissenschaft dagegen hat die Wirtschaft Berührungen als Bedürfnis erkannt, mit dem sich viel Geld verdienen lässt. Denn der Mangel an Berührung heutzutage ist eine gewaltige Marktlücke. Nicht ohne Grund gibt es diverse Formen der Massage, wie z.B. Hot-Stone-Massage, Massagen mit Klangschalen, Honig- oder Schokoladenmassage, Fußreflexzonenmassage, Baby- und Partnermassage usw. Berührungen entfalten ihre Wirkung sogar dann, wenn wir uns selbst berühren. Und dies tun wir sehr oft: Rund 400-mal am Tag fassen wir uns ins Gesicht. So haben die ganzen Körperpflege-Produkte wie Cremeseifen, Körperlotionen, Öle und Peelings ihre Daseinsberechtigung auf einen gewaltigen Markt der Hilfsmittel für Berührungen.

Wichtig ist die Verbindung von Haut und Gefühlen.

Bei relativ sanften und langsamen Streichel-Bewegungen werden die sogenannten C-taktilen-Nervenbahnen der Haut aktiviert. Diese befinden sich in den Hautarealen, wo Haare wachsen, seien sie auch noch so winzig. Dabei werden aber nicht nur die harten Fakten übermittelt, wie Struktur und Ort der Berührung, sondern über spezielle Nervenverbindungen auch eine emotionale Bewertung der Berührung. Die CT-Fasern signalisieren dem Gehirn, ob sie als angenehm oder unangenehm einzustufen ist. Im Gehirn führt ihre Aktivierung zur Ausschüttung des Glückshormons Dopamin und Oxytocin. Außerdem verändert sich die Empfindlichkeit für Endorphine, einer Gruppe körpereigener Opiate. In der Folge kommt es zum Abbau von Stresshormonen und der Verlangsamung von Atmung und Herzschlag. Der taktile Reiz führt also dazu, dass wir in die Stille kommen. Und wir wissen ja, in der Ruhe liegt die Kraft. Der Körper entspannt und wir fühlen uns wohl. So können Berührungen unsere Gefühle formen. Der Trost und die Kraft, die von einer innigen Umarmung ausgehen, besonders in Momenten von Verzweiflung, Kummer und Trauer kennen wir alle.

Durch die Ausschüttung von Oxytocin nach einer angenehmen Berührung werden Stresshormone im Körper abgebaut. Das reduziert nicht nur Ängste, sondern stärkt auch das Abwehrsystem. Denn ein Teil der Stressreaktion des Körpers ist die Unterdrückung von Immunfunktionen. Außerdem hat Oxytocin im Körper eine schmerzstillende Wirkung.

Somit ist es nicht verwunderlich, dass viele Patienten sich nach körperlicher Berührung sehnen und diese sehr gut annehmen. Allein schon der Gedanke daran, wie viele ältere Menschen allein leben und niemanden haben, den sie berühren können oder von dem sie berührt werden, lässt erahnen wie isoliert und ausgeschlossen sie sich fühlen müssen. Die körperliche Veränderung im Laufe des Lebens zeigt die Wichtigkeit vertrauten Körperkontakts. Denn unser Tastsinn bleibt bis ins hohe Alter ohne größere Einbußen erhalten, im Gegensatz zu den anderen vier Sinnen. Ihre Funktion nimmt mit zunehmendem Alter ab. Das Thema Berührung betrifft also nicht nur Kinder, sondern alle Altersklassen! Denken wir einmal daran, wie viele Singlehaushalte es in Deutschland gibt und bei wie vielen der Partner bereits verstorben ist.

Worte und Gedanken haben Kraft!

Doch ist mit Berührung nicht nur die körperliche gemeint, sondern auch die seelische. Wie wahrscheinlich jeder weiß, besteht auch die Möglichkeit jemanden durch Worte oder Gesten zu berühren. Das kennt jeder z.B. aus der Musikindustrie. Erfolgreiche Interpreten vermögen Menschen durch die Erzählungen und Geschichten in ihren Songs zu berühren. Vielleicht ist es uns selbst schon passiert durch Worte unseres Gegenübers ebenso verletzt, wie emotional positiv berührt worden zu sein. Selbst der Anblick eines geliebten Menschen oder der reine Gedanke an diesen, kann uns emotional berühren. Schon wenn wir kleine tapsige Tierbabys sehen, entweicht den meisten von uns ein mitfühlendes „Ohhhh, wie süß…“.

Die Praxis als Ort der Zuwendung

Liebe Kolleginnen und Kollegen, nehmt euch also nicht nur Zeit für eure Patienten, sondern bietet ihnen auch über sanfte, berührende Therapieformen einen Ort der Zuwendung. Denn das ist das, was in unserer schnelllebigen Zeit fehlt.

Durch körperliche Berührung fällt es uns leichter ein Vertrauensverhältnis zum Patienten aufzubauen. Verhalten wir uns unseren Patienten gegenüber empathisch und berühren ihn z.B. an der Schulter, signalisieren wir ihm „Du kannst mir vertrauen“ und vermitteln ihm das Gefühl von Anteilnahme, Mitgefühl und Sicherheit. Durch sanfte Berührungen kann der Körper häufig Verspannungen selbst lösen, denn er kennt den Weg, weiß, wie er dahin gekommen ist und wie er wieder rauskommt. Die Wirkung der Cranio-Sacralen Therapie ist z.B. zu 1/5 auf Technik zurück zu führen und zu 4/5 auf das Dasein für den Patienten.

Ein Gastbeitrag von HP Michael Metzrath

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